Ordensgemeinschaften in Deutschland

Die nächsten 900 Jahre

„Soeben haben die nächsten 900 Jahre begonnen!“ – Das ist mein Gedanke am diesjährigen Weihnachtsfest, besonders am Weihnachtstag und in der Weihnachtsoktav. – Warum? Ganz einfach: Am 25.12.1121 haben die ersten Frauen und Männer unseres Ordens ihre Gelübde im soeben erbauten Kloster in Prémontré bei Laon in Nordfrankreich abgelegt, sozusagen vor der Weihnachtskrippe, auch wenn man damals dieses Brauchtum in der heute vertrauten Form noch nicht kannte. Für unser Jubiläum haben wir deshalb auch das Motto gewählt: „Geburt Christi – Geburt des Ordens – 900 Jahre Prämonstratenserorden“.

Mit dieser Geburtsstunde ist ganz wesentlich die historische Persönlichkeit des Hl. Norbert von Xanten, unseresOrdensgründers verbunden, nach dessen Namen in manchen Ländern und Sprachen unser Orden auch „Norbertiner“ genannt wird. Mit dem Hl. Norbert tritt ein ganz wesentlicher Perspektivenwechsel auf den Plan der christlichen Religionsgeschichte. Bislang wurde dieser neue Blickwinkel eher späteren Größen der Kirchengeschichte zugeschrieben. Es war und ist bis heute nicht leicht, das Werk und die Lebensleistung dieses Heiligen sowie seiner vielen Mitschwestern und Mitbrüder der völligen Vergessenheit zu entreißen. Viele gewaltige Zerstörungsschläge, vor allen Dingen die Säkularisation, haben die allermeisten Gemeinschaften und Häuser des Ordens, auch die Erinnerung an sie vernichtet. 

In den letzten 30 Jahren hat sich das nun mehr und mehr geändert. Unter anderem haben wir heute ein viel stärkeres und größeres Interesse an vorreformatorischen Entwicklungenund ein größeres Interesse von Kirchen- und Profanhistorikern an vorreformatorischen Entwicklungen und Prozessen. Insbesondere im niederländisch-flämischen, französischen, englischen und deutschen Sprachbereich finden sich zusehends hoch interessante Ergebnisse neuerer Forschungen und Untersuchungen und dazugehörige Veröffentlichungen, die unser Wissen über die Anfänge und die Bedeutung unserer Ordensgemeinschaft in ein helleres und differenzierteres Licht stellen. Mit dem Hl. Norbert richtet sich der Blick seiner Anhänger nicht mehr so sehr auf Christus als den Pantokrator und Weltenrichter, sondern zusehends mehr auf die Menschheit Christi, auf den irdischen Jesus, den menschgewordenen Gottessohn, der hier auf der Erde unter den Menschen lebt, der eine Mutter und einen Vater hat, der mit seinen Freunden, Jüngern und Aposteln umherzieht, der sich mit dem Leben der Menschen befasst und daran teilnimmt, der Freundschaften pflegt, Sympathien hegt und der Mitleid empfindet mit den Nöten, Sorgen, dem Leiden und der Trauer der Menschen und der sich mit ihnen freut und mit ihnen feiert. Dieser gewendete Blick prägt das von Norbert vorgegebene Ziel, das apostolische Leben, das Leben der Apostel und der frühen und ursprünglichen Kirche in das eigene Leben und in die eigene Zeit hinein zu holen. Hätte man die frühen Prämonstratenser gefragt, warum sie so leben wie sie leben, die Antwort hätte mit Sicherheit gelautet: „Weil Jesus und die Apostel so gelebt haben!“

Im Zusammenhang mit dem vom Hl. Papst Johannes XXIII.geforderten „Aggiornamento“ (Verheutigung) der Ordenscharismen birgt diese Tradition unseres Ordens einen großen und reichen Schatz: In Einfachheit miteinander gemeinsam zu leben, verbunden mit einem echten Interesse an den Menschen, die uns umgeben, den Menschen unserer Zeit, in ihrem Leben, ihren Sorgen und Freuden und im Zusammenwirken mit ihnen die befreiende Kraft des Evangeliums Jesu neu zu entdecken. 

So gesehen sage und schreibe ich heute mit großer Gelassenheit und auch mit Entschiedenheit und Freude: Die nächsten 900 Jahre haben soeben begonnen!

Über den Autor

Abt Albert Dölken ist Abt des Prämonstratenserklosters Hamborn.

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