Die Landkarte
Wer alte Landkarten anschaut – sei es eine antike Karte der damals bekannten Welt oder erste Karten der „Neuen Welt“ Amerika – und sie mit späteren Karten vergleicht, sieht, wie stark sich die Landkarten verändert haben. Sie zeigen ganz verschiedene Welten. Es ist schon erstaunlich, dass die frühen Entdecker angesichts der gewaltigen Unterschiede zwischen Landkarte und Wirklichkeit überhaupt ein Ziel erreicht haben. Oft genug war es, wie bei der Entdeckung Amerikas, dann auch ein ganz anderes Ziel als das gesuchte.
Es geht um unseren Zugang zur Wirklichkeit. Wir brauchen zu Orientierung Vorstellungen und Bilder. Solche inneren „Landkarten“ sind ganz normal und notwendig. Aber sie bergen, solange sie unbewusst bleiben, auch eine Gefahr, denn:
“Eine Landkarte ist etwas, das auf etwas anderes hindeutet, und ihr Sinn besteht allein in dieser Fähigkeit. … Indem wir die Landkarten mit dem Territorium verwechseln, haben wir auch ihre Nützlichkeit fast gänzlich zunichte gemacht. Unsere Landkarten sind Fiktionen ... Und so nützlich diese Fiktionen auch sein mögen, sie führen zu unsäglicher Verwirrung, wenn man sie für Fakten nimmt.” (Ken Wilber)
Ist dies nicht eine entlarvende Analyse, ganz gleich, ob es sich um persönliche, politische oder religiöse Landkarten handelt? Werden nicht gerade auch in der Kirche traditionelle Formen und Deutungsmuster – also religiöse Landkarten – mit Wahrheit und Wirklichkeit gleichgesetzt? Es wird heftig über diese Landkarten gestritten und erst recht darüber, wie sie zu lesen seien. Da erleben viele Menschen den drohenden Verlust traditioneller Landkarten als existentielle Katastrophe, die mit allen Mitteln verhindert werden muss. Zugleich werden wir von immer mehr anderen, besonders solchen, die sich mit denselben Landkarten längst nicht mehr zurechtfinden, eindringlich gefragt nach dem, was wir wirklich leben.
Halten wir uns noch offen für die befreiende Wirklichkeit des GANZ-ANDEREN?!