Ordensgemeinschaften in Deutschland

Kolumne: Miteinander und füreinander

Friedrich Hölderlin hat in seinem Gedicht „Friedensfeier“ folgenden Vers hinterlassen: „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“

Ergänzend dazu fällt mir eine jüdische Geschichte ein, in welcher ein Rabbi seine Schüler fragt: „Wann endet die Nacht, und wann beginnt der Tag?“ Die Schüler antworteten: „Ist es die Stunde, da man einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ Der Rabbi schüttelte den Kopf. Darauf die Schüler: „Es ist wohl, wenn sich ein Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden lässt.“ Wiederum verneinte der Rabbi. „Ja, wann denn?“, fragten die ratlosen Schüler. Da erhob der Rabbi seine Augen: „Es ist, wenn du in das Gesicht eines Menschen blickst und darin deinen Bruder, deine Schwester erkennst.“

Sowohl bei Hölderlin wie in der jüdischen Geschichte ist vom Morgen die Rede. Der Morgen bringt Licht ins Dunkel der Welt. Er schenkt Hoffnung und Zuversicht. Der Morgen, wie er in den beiden literarischen Zeugnissen beschrieben wird, hat vor allem etwas mit mitmenschlicher Gemeinschaft zu tun.

Von Morgen an, schreibt Hölderlin, sind wir ein Gespräch und können voneinander hören. Wir führen nicht nur Gespräche. Wir sind ein Gespräch. Von Morgen an ist der Mensch ausgerichtet auf andere Menschen. Er braucht ein offenes Ohr ebenso wie offene Augen. Andere Menschen kann ich so oder so wahrnehmen. Sie können für mich anonyme Gestalten sein. Ich kann sie als anstrengend oder widerwärtig wahrnehmen. Sie können Konkurrenten oder sogar Feinde sein. Sie können aber auch Brüder und Schwestern sein, das heißt: mit mir im Miteinander und Füreinander verbunden.

In den Ordensgemeinschaften und Klöstern leben wir mit der Herausforderung ebenso wie mit dem Geschenk, einander Brüder oder Schwestern zu sein. Heutzutage geschieht dies oft in internationaler Buntheit und Vielfalt. Am jährlichen Sonntag der Weltmission können gerade wir der Kirche und Gesellschaft zeigen: Miteinander und Füreinander sind möglich. Gemeinsam ist besser als einsam, gerade in der weltweiten Gemeinschaft der Kirche.

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Über den Autor

P. Dr. Martin Leitgöb CSsR ist der Provinzial der Redemptoristen Wien-München.

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