Ordensgemeinschaften in Deutschland

Jahrhundertealte heilige Botschaften

Der Steyer Missionar Severin Parzinger sichert indigene Festansprachen in Bolivien.

Br. Severin Parzinger ist Steyler Missionar. Die letzten Monate verbrachte er im Rahmen seiner Ordensausbildung in der Mission in Bolivien. Dort stieß er auf die "Sermones Chiquitanos", jahrhundertealte Festansprachen der Indios, die den Glauben und das religiöse Wissen der brasilianischen Ureinwohner weitertragen. In einem viermonatigen Projekt hat der junge Missionar dieses kollektive Seele der Indios nun für die Nachwelt gesichert.


Er berichtet darüber in seinem Blog wie folgt:

„4 Monate intensive Arbeit, 4 Monate voller spannender Begegnungen, 4 Monate „Wortklauberei“, 4 Monate Ringen mit einer vom Verlorengehen bedrohte Sprache, 4 Monate… und am Ende ein Buch.
So könnte man das nun (fast ganz) abgeschlossene Projekt mit und über die traditionellen, indigenen Festansprachen (die sog. Sermones Chiquitanos) in San Miguel kurz zusammenfassen.

Als zentraler Teil der von der UNESCO als Welterbe anerkannten lebendigen Kultur der Chiquitanía sind diese Sermones wohl so etwas wie das gemeinsame „Gedächtnis“ oder die kollektive „Seele“ der ehem. Jesuitenreduktionen im östlichen Tiefland Boliviens. Diese Ansprachen werden von den Caciques, den traditionellen Dorfoberhäuptern, an den großen katholischen Festtagen in ihrer ursprünglichen Sprache Chiquitano-Bésɨro feierlich rezitiert. Sie berichten von der christlichen Bedeutung des jeweiligen Festes, erinnern an grundlegende Werte und die Zentralität des Glaubens für das individuelle und gemeinsame Alltagsleben, schildern mit unglaublicher Kreativität und origineller Imagination die Geschichten von Heiligen und – vielleicht am wichtigsten – laden dazu ein, unmittelbar teilzuhaben am erzählten Geschehen, holen die Heilsgeschichte in die zeitliche und räumliche Gegenwart. So ist das biblische Paradies nicht ein ferner, imaginärer Ort oder eine theologische Metapher, sondern ganz konkret der „Chaco“ Gottes (Chaco ist eine Waldlichtung, an der Ackerbau betrieben wird), wo einfach die besten Früchte wachsen und das Wasser am klarsten ist. Oder die Begegnung mit dem Auferstandenen in „Galiläa“ wird zur mit allen Sinnen erlebbaren Realität, wenn sie sich im Ritual der „Begegnung“ (encuentro) und Prozession nach der Osternacht verschmelzen… Nachfolge ist hier nicht mehr nur einfach ein spirituelles Konzept oder eine theologische Dimension, sondern praktisches „Hinterherlaufen“ hinter Jesus und den Heiligen während der Prozessionen. Die entsprechenden Interpretationen dafür liefern die Sermones. Als genuin indigene literarische Schöpfung vermitteln sie die christliche Botschaft und verbinden diese mit ihrer traditionellen Spiritualität und Weltsicht. Über drei Jahrhunderte überwiegend mündlich überlieferte Weisheiten – oder wie die Chiquitanos selbst sagen – „Wort Gottes“, heilige Texte, lebendige Wegweisung für unser christliches Leben, Gott-geschenkte Tradition. Eine Tradition, die wie die indigen Sprache selbst Gefahr läuft, verloren zu gehen. Ein Dorf, eine Gesellschaft, die angesichts globaler Einflüsse und Migration kulturell zutiefst verunsichert ist, in der alte Traditionen notwendigerweise radikal hinterfragt werden und die gleichzeitig und vielleicht paradoxerweise mit aller Kraft ihr kulturelles Erbe zu halten und wieder zu entdecken versucht.

Aber zurück zum Sermones-Projekt. Angefangen hat alles beim sonntäglichen Plausch bei einer Chicha und einem Stamperl Zuckerrohrschnaps nach dem Gottesdienst, zur Ehre Gottes versteht sich. Das gehört zum Sonntagsprogramm des Cabildo, dem traditionellen Dorfrat. Sie erzählten mir wie gewohnt von ihren Traditionen, und eben auch von den Sermones und den damit verbunden aktuellen Schwierigkeiten. Da nur noch vereinzelte, „emeritierte“ Caciques die Chiquitano-Sprache so gut verstehen, dass sie auswendig die Sermones rezitieren können, sind heute alle auf handgeschriebenen Büchlein angewiesen. Die langen Sermones (viele dauern eine halbe Stunde, einige sogar eine Stunde) durften immer schon aufgeschrieben werden, als Gedächtnisstütze. Seit vielen Generationen werden sie kopiert. Die kürzeren werden erst etwa seit den 1960er Jahren schriftlich tradiert. Diese Hefte sind gewissermaßen Kollektivbesitz, werden von einem Cacique zum anderen weitergereicht, geliehen, weiterkopiert, und gehen manchmal eben auch verloren. Wenn das Büchlein verloren ist, ist der Sermon für das jeweilige Fest verloren. Diese gemeinsame Erkenntnis und die Tatsache, dass „diese neuen Hefte alle schlecht kopiert sind“, wie die Alten sagen, haben uns dazu motiviert, Hand an zu legen. Die Idee: alle zugänglichen Hefte zu leihen, für ein kleines „Archiv“ zu kopieren, möglichst alle Sermones für die über das ganze Jahr verteilten Feste zu sammeln, als Audios aufzunehmen und am Ende ein komplettes Heft zusammenzustellen; ein Projekt zur Revitalisierung und Stärkung der Sermones-Tradition mit dem Ziel, ein „Handbuch“ in Form einer Materialsammlung allen Sermoneadores (Sermon-Rezitierer) und Gemeinden zur Verfügung zu stellen.

Wir wollten die für die meisten heute aufgrund von sprachlichen Hindernissen verborgenen und gewissermaßen schon verlorengegangenen Botschaften der Sermones wieder neu und für alle zugänglich zu machen. Gemeinsam mit den Caciques und einem „Koordinationsteam“ haben wir über viele Wochen unzählige Sermoneadores besucht, unser Anliegen mit ihnen diskutiert, etwa 25 Außenstationen von San Miguel besucht, Patronatsfeste mitgefeiert… immer auf der Suche nach Sermones-Handschriften. Am Ende haben wir in den vergangenen vier Monaten 24 Sermones-Hefte kopiert und digitalisiert, 74 Audio-Aufnahmen dieser traditionellen Ansprachen gemacht, etwa 250 Sermones miteinander Wort für Wort verglichen, 50 Sermones für ebenso viele Feste bearbeitet und transkribiert, 40 Sermones von Chiquitano ins Spanische übersetzt und Kurzzusammenfassungen bzw. Interpretationen erstellt, sowie 11 traditionelle religiöse Festgesänge mit ihren Übersetzungen und die Grundgebete auf Chiquitano zusammengestellt. Mit entsprechenden Fotos wurde alles für eine Publikation in Buchform mit Audio-CD vorbereitet.

In diesen Tagen laufen im Steyler Verlag in Cochabamba, Bolivien, die letzten Layout-Feinheiten und die Korrekturen der Druckfahnen. Mitte September soll das „Handbuch für Sermoneadores“ dann offiziell vom Bürgermeister von San Miguel vorgestellt und überreicht werden. Ein Baustein, der dazu beitragen will, die eigene Kultur tiefer zu erschließen, zu verstehen und zu leben. Eine Einladung, jahrhundertealte heilige Botschaften wieder zu entdecken, die darin vermittelten Werte und Weisheiten neu wertzuschätzen und für zukünftige Generationen wach zu halten. Der Versuch einer gemeinsamen, handlungsorientierten und konkreten Antwort auf tiefgreifende kulturelle Verunsicherungen und Veränderungen. Ein kleiner, demütiger Schritt auf unserem gemeinsamen, missionarischen Pilgerweg auf der Suche nach dem Reich Gottes, dem Gott-gewollten Leben für alle.

Für mich persönlich eine ganz besondere Zeit intensiven und respektvollen Eintauchens ins „Allerheiligste“ der Chiquitanos in San Miguel, in ihre ursprüngliche Sprache und ihre überlieferten Geschichten, die von Gottesbegegnungen und Lebenserfahrungen erzählen. Einmal mehr ein Staunen über ihren tiefen Glauben und die in ihre Welt und Gegenwart inkarnierte Heilsgeschichte Gottes mit „seinem Volk“.”

Hier finden Sie den Blog von Br. Severin Parzinger: https://compartiendovidayfe.wordpress.com/