Ordensgemeinschaften in Deutschland

Mit offenen Nähten zu GOTT

„Ein Schulweg voller Astern. Fräulein Kaskel mit ihrer feinen, durchscheinenden Haut und ihrem schwebenden Gang kommt auf dem Weg zur Schule durch die Felder. Sie hätte schön sein können, ohne ihre defensiv vorgetragene Religiosität, die sich anfühlte, als lebe sie ungesund mit dem Herrn. Ihr Unterrocksaum hat sich hinten gelöst und schaukelt, einer Gardine ähnlich, auf der Höhe ihrer Kniekehlen. So feixt die kleine undisziplinierte Erinnerung, lebendiger als alles, was Frau Kaskel mir je vom Herrn gesagt hat.“ (Roger Willemsen, aus Momentum, Frankfurt 2012)

Fräulein Kaskel und ihr scheinbar ungesundes Leben mit dem Herrn: Sie bringt mein Herz zum Lächeln und macht mich zugleich nachdenklich. Was erzählt der Unterrocksaum, der nicht mehr an Ort und Stelle ist, vom „Herrn“?

Der Zustand der Kirche zeigt, dass Perfektion, wohlgefeilte Worte nicht unbedingt Türöffner auf GOTT hin sind. Auch nicht Gesetze, die uns genau sagen, was erlaubt und nicht erlaubt ist, auch keine Glaubenssätze, die kurzatmig machen und uns das Licht rauben. Eine vor sich her getragene Makellosigkeit versperrt eher den Weg zu GOTT, als dass der Hunger nach IHM brennender wird. Wirklich, der herunterhängende Unterrocksaum von Fräulein Kaskel erzählt mehr über IHN und auch über den Menschen. Leben ist nicht glatt, nicht schmerzfrei, Leben ist fragil, verwundbar, oft irritiert. Leben bedeutet immer auch Wagnis. All dies erzählt von GOTT.

Fräulein Kaskels Unterrocksaum weist uns hin auf eine große Menschlichkeit. Nichts muss verdeckt werden, nichts beschönigt, nichts ausgeblendet. Für mich haben solche Begegnungen mit dem Unvollkommenen etwas Heilsames. Auch ich darf mich zumuten mit meinen Ungereimtheiten, mit meinem Stolpern, mit offenen Nähten und Löchern im Herzen. Die Erfahrung, so geliebt zu bleiben, schürt in mir die Liebe.

Vielleicht verbrauchen wir viel zu viel Zeit, das Losgelöste wieder festzumachen. Vielleicht zeigt uns gerade darin GOTT das Neue, das unsere Kirche so sehr braucht: Menschlichkeit.

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Über die Autorin

Sr. M. Scholastika Jurt gehört den Arenberger Dominikanerinnen an.

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