Ordensgemeinschaften in Deutschland

Wer gewinnt? Das Recht oder die Nächstenliebe?

Gastbeitrag von DOK-Vorstandsmitglied und Vertreterin im Arbeitsstab des "Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen der DBK, Sr. Scholastika Jurt in der Zeitung "Die Tagespost" vom 13.08.2020

Der folgende Gastbeitrag von Sr. M. Scholastika Jurt OP, Mitglied im Vorstand der DOK, Generalpriorin der Kongregation der Arenberger Dominikanerinnen und Vertreterin der Ordensgemeinschaften im Arbeitsstab des „Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen“ der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Stefan Heße rund um das Thema Kirchenaysl erschien in der Zeitung "Die Tagespost" vom 13.08.2020. orden.de dokumentiert den Beitrag.

Es wäre fatal, die Auseinandersetzungen rund um das Kirchenasyl in Spannung mit der Flüchtlingspolitik als Konkurrenzkampf zu sehen, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt. Das Zusammenleben braucht Gesetze, braucht Struktur, verlangt Vorgaben, die unseren Alltag regeln. Das Kirchenasyl, diese alte christliche Tradition, wendet den Blick auf den gefährdeten, schutzsuchenden Menschen. Es öffnet in begründeten Ausnahmefällen einen zeitlich befristeten Raum des Zuhörens und Begleitens. Dieser Raum ermöglicht, wiederholt den Grund der Flucht und die Fluchtgeschichten, die psychische und physische Verletzungen der Geflüchteten zu evaluieren und das Begehren der Schutzsuchenden nach Asyl in einem neu verfassten Dossier nochmals einer sorgfältigen Prüfung vorzulegen. Das Kirchenasyl ist somit eine Chance, gegebenenfalls Fehlentscheidungen der zuständigen Behörden und Gerichte zu revidieren. Dazu ist bereits 2015 eine besondere Vereinbarung zum Umgang mit Kirchenasylen zwischen den Kirchen und dem Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge getroffen worden. Da und dort bleibt der bittere Geschmack, dass diese Absprachen bröckeln. Vor allem die auf 18 Monate verlängerte Überstellungfrist macht ein Kirchenasyl für Kirchengemeinden und Klöster beinahe unmöglich.

Die Beurteilung, ob ein Härtefall vorliegt, d.h. ob bei einer Abschiebung eine existentielle Bedrohung zu befürchten ist, ist ein hochsensibles Thema. Denn: Kann Härte gemessen werden? Der Grad seelischer Verletzungen? Schon immer hat sich die Kirche als Anwältin für Benachteiligte und in Not Geratene verstanden. Hier geht es konkret um den Schutz des Einzelnen, um Hilfe für ein Menschenleben, das einer hohen Gefährdung ausgesetzt ist. Ein Kirchenasyl bewegt sich nicht im rechtsfreien Raum und entbindet nicht von notwendigen Gesetzen. Eine andere Instanz jedoch kann einen empfindlichen Konflikt auslösen: das Gewissen, diese leise Stimme in uns, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt, wenn scheinbares Unrecht geschieht und uns in Bewegung bringt, wenn Not unter die Haut geht. Eine Zerreissprobe.

Barmherzigkeit und Nächstenliebe sind Wesenszüge eines Lebens, das sich am Evangelium Jesu Christi orientiert. Nächstenliebe ist mehr als Gesetz und Recht. Sie lässt sich nicht klar definieren und in einem Gesetzestext festhalten. Nächstenliebe beschreibt ein urmenschliches Bedürfnis nach Solidarität und Gerechtigkeit, die, biblisch gesprochen, alles daran setzt, Leben zu ermöglichen und Leben zu schützen.

Jesus durchbrach Gesetze, die nicht dem Leben dienten. Er achtete nicht auf die Reinheitsgebote, wenn sie ihm verboten, sich den Ausgestoßenen zuzuwenden. Er heilte am Sabbat, was ihm wachsende Feindschaft einbrachte. Allen Menschen, so seine eindringliche Botschaft, ist Leben verheißen. Allen. Jesus erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Da ist ein Fremder, der dem unter die Räuber Gefallenen hilft. Ungeachtet, wer dieser Verletzte ist. Da gibt es kein Fragen mehr. Und heute? Da gibt es Fragen, ob wir es schaffen, mit all den Flüchtlingen und Fremden, ob uns etwas genommen wird, ob wir mehr geben müssen, als wir bekommen.

Was uns Not tut, ist ein bleibender lebendiger Dialog, der hilft, den eigenen Platz zu verlassen und den Ängsten die lebensbedrohliche Macht zu nehmen, die ausschließt und anstelle eines Schutzraumes eine Mauer aufbaut, an der Menschen unter furchtbaren Bedingungen leben und sterben. Wir haben Gesetz, Recht und Nächstenliebe in der Schwebe zu halten und miteinander unentwegt ins Gespräch zu bringen, ohne den Wettstreit, wer gewinnt. Neue Hilfsprojekte können entstehen. Für das Leben.

„Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben;

ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben;

ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.“

Matthäus 25,35f

Hier geht es zum Artikel auf der Homepage der Tagespost.