Ordensgemeinschaften in Deutschland

„Wir müssen alle ein bisschen mehr wie Franz von Assisi werden“

Ein Interview mit dem Provinzial der Deutschen Kapuzinerprovinz, Christophorus Goedereis, über die neue Enzyklika von Papst Franziskus

Fünf Jahre nach seinem Schreiben „Laudato si‘“ hat der Papst am 3. Oktober 2020 in Assisi ein weiteres Grundsatzdokument für die gesamte Menschheit veröffentlicht. Wieder hat er einen franziskanischen Titel gewählt: „Fratelli tutti“. Ein Gespräch über die neue Enzyklika mit dem Provinzial der Deutschen Kapuzinerprovinz, Christophorus Goedereis.

Was ist die Kernaussage der neuen Enzyklika?

In „Fratelli tutti“ ruft der Papst zu einem umfassenden Neuaufbruch in und nach der Corona-Pandemie auf. Vor allem mahnt Franziskus zu einem neuen Denken in Sachen soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftspolitik. Und auch die Religionen werden zum Dialog und zum gemeinsamen Beitrag ermutigt. 

Welche Passagen haben Sie besonders beeindruckt?

Im ersten Kapitel heißt es: „Die Schatten einer abgeschotteten Welt lassen Verletzte am Wegesrand zurück. Angesichts dieser Wirklichkeit sind zwei Haltungen möglich: weitergehen oder stehenbleiben; einschließen oder ausschließen. Das wird das Wesen des Menschen bestimmen.“

In „Fratelli tutti“ geht es dem Papst um eine neue, universelle Freundschaft sowie um die soziale Verantwortung unter allen Menschen – egal, welcher Nation, Kultur, Religion oder Weltanschauung sie auch sein mögen. „Einen Dialog führen zu können, ist der Weg, um die Welt zu öffnen und soziale Freundschaft aufzubauen“, schreibt Papst Franziskus im 6. Kapitel des Schreibens. „Der Dialog respektiert, ermöglicht und sucht die Wahrheit; der Dialog lässt die Kultur der Begegnung entstehen, das heißt, dass die Begegnung zu einem Lebensstil, einer Leidenschaft und einer Sehnsucht wird. Wer einen Dialog führt, ist freundlich, er akzeptiert und respektiert den anderen“, heißt es weiter.

Die Notwendigkeit des Dialogs zieht sich durch das gesamte Dokument. Das gilt auch für den interreligiösen Dialog.

So ist es. In der Tradition des Dialogs, den der Heilige Franziskus bereits im 13. Jahrhundert mit dem Sultan von Ägypten geführt hat, schreibt der Papst im 8. Kapitel: „Die Religionen sind aufgerufen zum Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt. Aus unserer Offenheit gegenüber dem Vater aller erkennen wir unsere universale Stellung als Brüder und Schwestern.“ An vielen Stellen verweist Papst Franziskus in seinem Text auf den sunnitischen Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmad al-Tayyeb, mit dem er 2019 in Abu Dhabi ein „Dokument der Brüderlichkeit“ unterzeichnet hatte. Ein starkes Zeichen.

Warum ist das Schreiben wichtig für die Kirche und die Gesellschaft?

Weil die Menschheit an einer Wegscheide steht. Die Corona-Pandemie ist dafür nicht der Grund, sondern ein Beschleunigungsfaktor für die drängenden Fragen der Menschheit.

Es ist auch ein politischer Text.

Franziskus betont in seiner Enzyklika ausdrücklich seine Ablehnung des Unilateralismus. Er schreibt: „Machen wir uns bewusst, dass die Ungerechtigkeit nicht nur Einzelne betrifft, sondern ganze Länder. Sie verpflichtet dazu, über eine Ethik der internationalen Beziehungen nachzudenken.“ Er erteilt an vielen Stellen politisch extremen und intoleranten Haltungen eine klare Absage.

Ist die Enzyklika ein großer Wurf?

Ob es ein großer Wurf ist, vermag ich nicht zu sagen. Vieles von dem, was in “Fratelli tutti” steht, wurde bereits gesagt, zu einem großen Teil vom Papst selbst. Das macht die Aussagen aber nicht weniger dringlich. Auch das Evangelium bleibt stets neu und aktuell.

Was ist der besondere franziskanische Blick?

Fünf Jahre nach „Laudato si‘“ erreicht die Welt ein weiteres globales Grundsatzdokument aus der Feder eines Papstes, der selbst den Namen des Poverello, des kleinen Armen, aus Assisi angenommen hat. Es zeigt uns nicht nur, wie aktuell die franziskanische Spiritualität ist – es zeigt uns auch, dass die Menschheit sich neu für die Grundwerte entscheiden muss, die dem Heiligen Franziskus heilig waren: die globale Geschwisterlichkeit, die Menschen am Rande, die Schöpfung, der Dialog der Religionen, die globale soziale Verantwortung, die Umsetzung von fundamentalen menschlichen Grundwerten in Politik und Wirtschaft. Der Grundton, den ich heraushöre, heißt: Wenn wir überleben wollen, müssen wir alle ein bisschen mehr wie Franz von Assisi werden.

Was muss nun folgen?

Das konkrete Handeln im Großen wie im Kleinen.