Ordensgemeinschaften in Deutschland

Kassandra

Ich wusste ja schon seit längerem, dass ich diese Kolumne zum 2. Fastensonntag schreiben würde. Aber ich wusste nicht, was jetzt, wo ich mich zum Schreiben hinsetze, schon seit mehr als einerWoche die Gedanken und Gefühle so vollständig in Beschlag nehmen würde, dass es mir die Sprache verschlägt. Eigentlich ist nur noch Entsetzen da über die Brutalität des russischen Angriffs auf die Ukraine und über das Unfassbare eines Krieges in Europa, von dem wir nicht geglaubt hat, es jemals wieder erleben zu müssen. Worte von davor passen nicht mehr.

Vor vielen Jahren las ich die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ von Christa Wolf. Darin beschreibt die Autorin die Ereignisse des Trojanischen Krieges aus der Perspektive der trojanischen Königstochter und Seherin Kassandra. Ein Gespräch im Apollotempel in Troja zwischen einem Wagenlenker der Troja angreifenden Griechen und Kassandra habe ich mir damals abgeschrieben:

„Gestatte eine Frage, Seherin. – (Der Wagenlenker.) – Frag. – Du glaubst nicht daran. – Woran. - Dass wir zu siegen aufhörn können. – Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte. – So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt.

Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann. Komm näher, Wagenlenker. Hör zu. Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles weiß. So mag es, in Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.“

Vor einigen Tagen erinnerte ich mich wieder an diesen Text, er wirkt so erschreckend aktuell. Können Sieger aufhören weiter siegen zu wollen? Können sie, die erfolgreich erlebt haben wie man es macht, mit Gewalt den eigenen Machtbereich auszuweiten, können die aufhören weiterzumachen mit dem Zerstören, Vertreiben, Töten?

Damals habe ich den Text abgeschrieben, weil er mich an Jesus erinnert hat, an den wahren Menschen, der seinen Sieg in Leben verwandelt hat für viele. Er konnte es, weil er anders kämpfte und anders siegte, denn sein Sieg war nicht verbunden mit Gewalt gegenüber anderen, sondern erwuchs aus dem Sich-Stellen der an ihm verübten Gewalt. Und weil nicht Siegen sein Ziel war, sondern Leben in Fülle.

Wie so viele Menschen weltweit beten wir für die unsagbar leidenden Menschen in der Ukraine, aber auch für die vielen in Russland, die den Krieg nicht wollen. Wir beten um Einsicht bei den Aggressoren, dass es bei einem Krieg nur Verlierer gibt, weil ein weiteres Siegen-Wollen am Endeauch ihren Untergang bedeutet. Wir beten um ein Ende der Angriffe und um den Beginn von Frieden. 

Und wir beten für uns und alle um Hoffnung aus dem Sich-Halten an Jesus, der seinen Sieg in Leben umwandelt bis heute.

Über die Autorin

Sr. Maria Magdalena Hörter ist Ordensfrau in der Benediktinerinnenabtei Kloster Engelthal.

Zur Homepage der Abtei Kloster Engelthal.