Die erste Umarmung
In unserer Ordenstradition gibt es ein über 800 Jahre altes Bildmotiv, das schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Unter dem Titel „Amplexus“ sieht man den heiligen Bernhard, den Abt von Clairvaux, vor einem Kreuz kniend beten, während sich Christus vom Kreuz löst und ihn umarmt. Diese Umarmung berührt mich, weil sie eine Ermutigung ist, dass Gott jeden Menschen umarmen will und weil sie eine Einladung an alle ist, sich Gott zu öffnen.
Vor gut einem Jahr entstand ein Foto, das unser Bildmotiv in einem neuen Zusammenhang aufleuchten lässt. Als ich dieses Foto sah, war ich wie elektrisiert. Das vom dänischen Fotografen Mads Nissen eingesandte Pressefoto gewann unter 75.000 Fotos den diesjährigen World Press Foto Award. Nissen hält fotografisch den Moment fest, in dem die Pflegerin Adriana Silva da Costa Souza in einem brasilianischen Pflegeheim die Rentnerin Rosa Luzia Lunardi umarmt – zum ersten Mal nach 5 Monaten. Auch wenn der durchsichtige Plastikvorhang einen direkten Körperkontakt weiterhin verhindert, so ist doch das Gefühl der nicht enden wollenden Isolation überwunden. Nissen nannte das Bild „The First Embrace – die erste Umarmung“.
Gleich welches Bild wir betrachten, für beide Darstellungen gelten die Worte des dänischen Fotografen: „Die wichtigste Botschaft in diesem Bild ist Mitgefühl, Liebe und Anteilnahme.“ Berührung ist nie etwas, das an der Oberfläche bleibt. Wir leben von Zuwendung und Berührung. Das hat in der Pandemiezeit jeder Mensch erfahren. In einer dauerhaften Isolation würden wir gnadenlos verkümmern. Gleichzeitig brauchen wir eine gesunde Distanz, denn Berührung kann nicht nur heilen, sondern auch verletzen, wie die vielen von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen zeigen.
Es wird vielfach heilsam sein, wenn wir unsere Arme ausbreiten als Zeichen der Sehnsucht nach Nähe und als Zeichen der Bereitschaft, andere aufzunehmen. Es wird aber auch Situationen geben, in denen es besser ist, Abstand zu halten.